E.T.A Hoffmanns "Der Sandmann" aus psychatrischer Sicht
Die Erzählung „Der Sandmann“
von E.T.A.Hoffmann (1776 - 1822)
aus psychiatrischer Sicht.
Dr. Rüdiger Tessmann
Facharzt für Neurologie und Psychatrie
Zusammenfassung:
Der Verlauf der
psychotischen Erkrankung des Studenten Nathanael in der Erzählung von E.T.A.Hoffmann, der für eine kataton verlaufende
Schizophrenie (ICD 10,F 20.2) spricht, wird mit den modernen
wissenschaftlich-psychiatrischen Beschreibungen der Schizophrenie verglichen. Dabei soll zum Ausdruck gebracht
werden, mit welch bewunderungswerter Introspektion und Präzision der Dichter der
Romantik eine Geisteskrankheit beschrieb, die erst hundert Jahre später durch
Eugen Bleuler ihren Namen erhielt.
Im Weiteren wird
die psychoanalytische Deutung Sigmund Freuds der Erzählung in seiner Abhandlung
„Das Unheimliche“ zum Anlass genommen, auf den nunmehr hundert Jahre alten
Streit hinzuweisen, ob es im Sinne wissenschaftlicher Psychiatrie überhaupt
legitim ist, schizophrene Wahninhalte mit Hilfe mythologischer Metaphern
analytisch zu deuten.
Die
Erzählung Der
Sandmann von E.T.A. Hoffmann, die Geschichte des
Physikstudenten Nathanael, der dem Wahnsinn verfällt und sich durch den Sprung
von einem Turm suicidiert, repräsentiert für die Germanisten die Tendenz der
Romantik zur Darstellung des Unheimlichen und Grauenhaften, mit der im
Gegensatz zur rationalen Klarheit der Klassik auch die tieferen Seelenbereiche
des Menschlichen ausgelotet wird. Mit den germanistischen Kommentierungen zu
der Erzählung kann man Bände füllen.
Mit
der tanzenden Holzpuppe Olimpia in Hoffmanns Erzählungen hat die Kurzgeschichte
Musik – und Balettgeschichte geschrieben.
Sigmund
Freud hat sich der Erzählung Hoffmanns angenommen und sie in seiner Abhandlung
über „Das Unheimliche“ als Beweis seiner Hypothese vom Ödipuskomplex
dargestellt.
Seltsamerweise
ist bisher noch kein Psychiater auf die Idee gekommen, in der von
E.T.A.Hoffmann gebotenen Krankengeschichte des Studenten Nathanael eine frühe,
in seiner Präzision zu seiner Zeit noch nicht dagewesene Beschreibung des
klassischen Verlaufes einer schizophrenen Erkrankung der katatonen Verlaufsform
(ICD 120, F20,2) zu erkennen und dies mit einer Abhandlung zu würdigen.
Hauptfigur
der Geschichte ist der Physikstudent Nathanael ,
der plötzlich in eine angstvolle und hoffnungslose Stimmung verfällt, sich an
alptraumartige Kindheitserlebnisse erinnert, und der nach Heimkunft aus dem
Studienort durch seltsames Verhalten auffällt mit einer Neigung zu düsteren Gedanken und Vorahnungen. Dann kommt es
zweimal zu Wahnsinnsattacken. Beim ersten Mal greift er seinen Physikprofessor
tätlich an und wird in ein Irrenhaus verbracht. Nach langer Krankheit scheint
er genesen, jedoch bricht der Wahnsinn zum zweiten Mal aus. Er greift seine
Verlobte in lebensgefährlicher Weise an und springt dann unter entfremdetem
Lachen und Ausrufen von echolalischen Satzfetzen von einem Turm.
Etwa
ein Jahrhundert nach der Niederschrift der Erzählung hat die wissenschaftlich-empirische
Psychopathologie durch Emil Kraepelin, Karl Jaspers, Eugen Bleuler, Kurt
Schneider, Klaus Conrad u.a. eine spezifische Terminologie entwickelt, die uns
für die Beschreibung schizophrener Wahnsymptome die geeigneten Worte
vermittelt.
Um
so bewundernswerter ist die introspektive und sprachliche Fähigkeit des
Dichters E.T.A.Hoffmann, das subjektive Wahnerleben seines tragischen Protagonisten
einfühlbar zu schildern. Er beschreibt in lehrbuchhafter Präzision die
Symptomatik einer Geisteskrankheit, die es zu seiner Zeit natürlich schon gab,
die aber erst etwa hundert Jahre später durch Eugen Bleuler den Namen
„Schizophrenie“ erhielt.
Zu den psychiatrischen Kenntnissen und Motivationen
des Autors :
Als
Jurist gab Hoffmann psychiatrische
Gutachten zur Bestimmung der freien Willensbestimmung in Auftrag. In Bamberg
war er mit dem Nervenarzt und Leiter der Irrenanstalt Dr. Malcus befreundet und
diskutierte mit ihm über seelische Abartigkeiten. Er las psychiatrische
Schriften seiner Zeit, z.B. die Schriften des berühmten französischen
Psychiaters Philippe Pinel. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er in seinem
beruflichen oder privaten Leben die schizophrene Erkrankung eines jungen Mannes
erlebt und mit erhöhter Aufmerksamkeit beobachtet hat.
Hoffmann
schreibt :“Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige, was sich mit
meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich
dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen.“(Reclam S.17, Zeile 32)
Recht hat er; die Symptomatik der Schizophrenie ist zu seltsam, um von
Menschen erfunden zu werden.
Krankengeschichte des Studenten Nathaniel
Familienanamnese:
Über Geisteskrankheiten unter Vorfahren gibt die
Erzählung keine Auskunft.
Der
Vater wird als freundlich und gemütvoll geschildert.
„Oft erzählte er uns viele wunderbare
Geschichten und geriet darüber so in Eifer, dass ihm immer die Pfeife ausging,
die ich (Nathaniel) , ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anzünden musste,
welches mir denn ein Hauptspass war.“ (Reclam Seite 4, Zeile 20)
Die
Mutter wird als liebevoll beschrieben, wie sie den Sohn über die harmlose
Bedeutung des Sandmannes aufklärt. Nach dem Tod ihres Mannes nimmt sie noch
zwei Waisenkinder aus der Verwandtschaft zu sich, Lothar und Clara, zu denen er ein herzliches Verhältnis entwickelt.
Praepsychotische Persönlichkeit:
Bis
zum Beginn seines Studiums in der Stadt G. wies er offenbar keine Zeichen einer
psychopathischen oder neurotischen Persönlichkeitsstörung auf.
Die
kluge und lebenstüchtige Clara liebte ihn und war von seiner plötzlichen
Wesensänderung tief erschrocken.
In
seinem Brief, den er zu Beginn seiner Erkrankung schreibt, erzählt er, dass
eine Kinderfrau ihm den Sandmann ganz schrecklich geschildert habe als einen
Unhold, der die Augen der Kinder herrausreisst um sie an seine eigenen Kinder
zu verfüttern.
Seit
dieser Zeit habe er sich in seiner Fantasie immer mehr mit Spuk beschäftigt.
„Nichts war mir lieber, als schauerliche
Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu
lesen.“(Reclam, Seite 6, Zeile 10)
Im
gleichen Brief beschreibt er den Alptraum seines Erlebnisses im 10. Lebensjahr,
wie er des nachts den Vater mit dem unsymphatischen Coppelius bei chemischen
Versuchen am Ofen beobachtet und Coppelius ihm droht, seine Augen mit glühender
Kohle zu verbrennen, was auf Fürbitte des Vaters nicht geschieht.
Die
Erzählung legt nahe, diesen kindlichen Alptraum im Rahmen einer hoch
fieberhaften Erkrankung, etwa als Fieberdelir zu sehen. Er erwacht daraus „wie aus einem Todesschlaf, die Mutter hatte
sich über mich hingebeugt. „Ist der Sandmann noch da?“ stammelte ich. „Nein,
mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!“ - So
sprach die Mutter und küsste und herzte
den wiedergewonnenen Liebling“.- (Reclam Seite 19, Zeile 8)
Auch
danach leidet er noch lange an „hitzigem
Fieber“.
Die
chemischen Versuche des Vaters und des Coppelius führen später zum Tod des
Vaters durch eine Explosion.
Krankheitsbeginn:
In
seinem Brief, den er aus der Universitätsstadt an Lothar schreibt, datiert
Nathanael den Beginn allen Übels auf den 30. Oktober 12.00 Uhr mittags, als ein
italienischer Brillenverkäufer in sein Zimmer tritt, dem er eine ungewöhnliche,
bedrohliche Bedeutung beimisst.
Er
schreibt:“ Du ahnest, dass nur eigene,
tief in mein Leben eingreifende Beziehungen diesem Vorfall Bedeutung geben
können, ja, dass wohl die Person jenes unglückseligen Krämers gar feindlich auf
mich wirken muss.“(Reclam,Seite 3,Zeile33)
Klaus Conrad vergleicht solche ersten wahnhaften Situationsverkennungen bei der
beginnenden Schizophrenie mit „dem ersten
Wetterleuchten als Zeichen des heraufziehenden
Gewitters“.
Karl
Jaspers nennt das in seiner „Allgemeinen Psychopathologie
(1913):“Abnormes Bedeutungsbewusstsein“
Nathanael
behandelt den ambulanten Händler unangemessen grob und sieht in ihm plötzlich
einen Doppelgänger des unsympathischen Advokaten Coppelius, den er aus seiner
Kindheit erinnert, und dem er die Schuld am Tode seines Vaters zuschreibt.
Später, im zweiten Brief korrigiert er dies, indem er klarstellt, dass
Coppelius ein Deutscher war, während
Coppola Italiener ist und einen piemontesischen Dialekt
spricht.(Reclam,Seite16,Zeile18) Trotzdem bleiben Coppelius und Coppola für ihn
Unheil bringende Gestalten, die sein Leben auf das Tiefste verdüstern und verhexen.
1) Bleuler beschreibt 1911 in seinem Buch “Die Gruppe der
Schizophrenien“ im Kapitel:“Die
akzessorischen Erinnerungsstörungen“,dass „ alte, oft bis in die frühe Kindheit zurückgehende Erinnerungen wie
frisch auftauchen oder auch sich aufdrängen. Im letzteren Fall kann man
geradezu von Zwangserinnern sprechen. (...) Sie können im Sinne von Erinnerungsillusionen
verändert werden, (...) wieder verschwinden, aber auch dauernd von der Psyche
Besitz nehmen.“
Bei
Nathanael ist dies der Fall. Clara will ihm helfen, diese böse Erinnerung zu
vertreiben, indem sie sagt:“Ja, Nathanael
, du hast Recht, Coppelius ist ein böses, feindliches Prinzip(...), wie eine
teuflische Macht, die sichtbar in dein Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn
nicht aus Sinn und Gedanken verbannst.“
Das
aber kann Nathanael nicht gelingen, denn er ist aufgrund der beginnenden Krankheit
ganz von einer wahnhaften Stimmung
erfasst, die er mit den Worten beschreibt :
„Etwas Entsetzliches ist in mein Leben
getreten! - Dunkle Ahnungen eines grässlichen mir drohenden Geschicks breiten
sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem
freundlichen Sonnenstrahl.-“(Reclam,Seite 3, Zeile 15)
Klaus Conrad bezeichnet in seinem Buch „Beginnende Schizophrenie“ das erste
Hineintreten in die Wahnwelt als „Trema“
mit einem Gestimmtsein von Druck und Spannung, als Unruhe und Angst. Er
vergleicht dies mit der Situation eines Schauspielers, der auf die Bühne tritt
und seine Rolle spielen muss.
Danach
kommt es zu der „apophänen Phase.“
Jaspers
beschreibt diese als „das unmittelbar sich aufzwingende Wissen von den
Bedeutungen“- eben in der Art eines Offenbarwerdens, einer Offenbarung- als das
wesentliche Kennzeichen primären Wahnerlebens.
In
der Initialphase der Schizophrenie fühlt sich der Kranke wie hypnotisiert, von
aussen gesteuert und beeinflusst und er erlebt die Umwelt verfremdet mit auf
ihn bezogenen Bedeutungen.
In
der Diagnostik der Schizophrenie spielt nach Kurt Schneider die Wahnwahrnehmung eine bedeutende Rolle.
Kurt
Schneider: “Man spricht von Wahnwahrnehmungen,
wenn wirklichen Wahrnehmungen ohne verstandesmässig (rational) oder
gefühlsmässig (emotional) verständlichen Anlass eine abnorme Bedeutung, meist
in der Richtung der Eigenbeziehung, beigelegt wird. Diese Bedeutung ist von
besonderer Art: fast immer wichtig, eindringlich, gewissermassen persönlich
gemeint, wie ein Wink, eine Botschaft aus einer anderen Welt. Es ist, als
spräche aus der Wahrnehmung eine höhere Wirklichkeit. Da es sich nicht um eine
Veränderung des Wahrgenommenen, sondern um eine
solche seiner Bedeutung handelt, gehören Wahnwahrnehmungen(...) zu den
Störungen des Denkens. Sie sind stets ein schizophrenes Symptom, wenn auch
nicht ganz ohne Ausnahme ein Anzeichen
dessen, was wir klinisch eine Schizophrenie heissen(.....)
Auch die Personenverkennung
gehört häufig zu den Wahnwahrnehmungen, jedenfalls zum Wahn.(....)
Wenn wir sagten, dass die Wahnwahrnehmung nicht
aus einer Stimmung ableitbar sei, so widerspricht dem nicht, dass auch der
Wahnwahrnehmung häufig eine von jenem Prozess getragene Wahnstimmung vorausgeht, ein Erleben der Unheimlichkeit, seltener
Erhebung.“
Im
Falle des Studenten Nathanael schildert E.T.A.Hoffmann in einprägsamer Art das
Hineingleiten in die Wahnstimmung des Unheimlichen, ausgelöst durch die
Wahnwahrnehmung einer aufgezwungenen verfremdeten Bedeutung des Brillenhändlers
Coppola und die wahnhafte Personenverwechslung mit dem Advokaten Coppelius, der
eine Figur seiner Kindheitserinnerung war.
Kurt
Schneider unterscheidet die Wahnwahrnehmung von dem Wahneinfall.
Unter einem Wahneinfall verstehen wir Einfälle,
wie den der religiösen oder politischen Berufung, der besonderen Fähigkeit, der
Verfolgung, des Geliebtwerdens.
Bei
unserem Patienten Nathanael haben wir den Wahneinfall, den Tod des Vaters rächen zu müssen durch Verfolgung des
Brillenhändlers Coppola (Reclam Seite 12, Zeile 15) und auch den Wahneinfall
des Geliebtwerdens durch die Holzpuppe Olimpia, die er stundenlang durch das
von Coppola gekaufte Fernglass anstarrt.(Reclam, Seite 29, Zeile 25).
Bei
der Einladung im Hause des Professor Spalanzani wird er durch seinen
ekstatischen Liebeswahn gegenüber Olimpia für die Gäste verhaltensauffällig. „Er musste vor Schmerz und Entzücken laut
aufschreien.“Olimpia!“ - Alle sahen sich nach ihm um, manche lachten“ und
der Domorganist rief erstaunt:“Nun, nun!“(Reclam, Seite31, Zeile19) Auch beim
Tanz bemerkt er „halbleises, mühsam
unterdrücktes Gelächter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen
Leuten erhob.“(Reclam,Seite32,Zeile14)
Für
die wahnhaften Erlebnisse und Eingebungen besteht für den Erkrankten die sogenannte
Wahngewissheit. Logische Argumente
vermögen diese Gewissheit des Kranken nicht zu erschüttern.
Clara
schreibt an Nathanael :„Gerade heraus
will ich dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und
Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre
wirkliche Aussenwelt aber daran wohl wenig teilhatte“. - (Reclam, Seite 13,
Zeile 23)
Recht
hat sie, aber bei Nathanael kommen diese Mahnungen nicht an.
Für
die Menschen der Umgebung zeigt Nathanael eine
schizophrene Wesensänderung. :“Alle fühlten das, da
Nathaniel gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen durchaus verändert
sich zeigte. Er versank in düstere Träumereien, und trieb es bald so
seltsam,wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war
ihm ein Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch,
sich frei wähnend, nur dunklen Mächten
zum grausamen Spiel diene...
Der verständigen Clara war diese mystische
Schwärmerei im höchsten Grade zuwider, jedoch schien es vergebens, sich auf
Widerlegung einzulassen.“(Reclam, Seite 21, Zeile 23)
In
der Erzählung wird ausführlich über Nathanaels Neigung berichtet,
selbstverfasste Dichtungen vorzulesen, die Clara beunruhigen oder langweilen.
Es heisst:
Sonst
hatte er eine besondere Stärke in anmutigen, lebendigen Erzählungen, die er
aufschrieb, und die Clara mit innigstem Vergnügen anhörte, jetzt waren seine
Dichtungen düster, unverständlich, gestaltlos(...)Nathanaels Dichtungen waren
in der Tat sehr langweilig(...)Clara konnte ihren Unmut über Nathanaels dunkle,
düstere, langweilige Mystik nicht überwinden.(Reclam,Seite 22, Zeile35)
Hier
stossen wir wiederum auf ein Charakteristikum des sprachlichen Ausdrucks
Schizophrener.
In
einem Aufsatz des Wiener Psychiaters Leo Navratil lesen wir:
„Je
deutlicher die Merkmale der (schizophrenen) Psychose hervortreten, einen um so
mehr dichterischen Charakter nehmen die Sprachäusserungen der Patienten an.
Oft
ist es so, dass mit grossem Pathos und in dichterischer Form grosse Banalitäten
vorgetragen werden, manchmal finden sich darunter auch treffende, originelle
Gedanken und sprachliche Formulierungen. Eine gewisse Dunkelheit und ein
gewisser Tiefsinn – manchmal Scheintiefsinn – sind nicht selten. Jedenfalls
wird der subjektive Bedeutungsgehalt des psychotischen Erlebens von der
Umgebung des Betroffenen meist nicht geteilt“. 1)
So
geht es auch Clara, die Nathanael rät, das ganze düstere Zeug ins Feuer zu
werfen.
.
Immer,
wenn die schizophrene Erkrankung bei einem jungen, intelligenten Menschen
auftritt, versuchen Familienangehörige und Freunde zunächst mit wachsender
Verzweiflung, den überspannt und ungewöhnlich wirkenden Gedankenäusserungen und
Verhaltensweisen durch rationale Argumente zu begegnen, oder sie als Stressfoge
zu erklären, bis endlich die Entscheidung fällt, den jungen Menschen dazu zu
bewegen, einen Nervenarzt aufzusuchen.
Zu
der schizophrenen Symptomatik gehört insbesondere das Phänomen der akustischen
Halluzinationen, die als Hören von Stimmen imperativen Inhaltes, als Stimmen
in Rede und Gegenrede oder als Gedankenlautwerden, d.h. Hören der
eigenen Gedanken, und schliesslich auch als Akoasmen, d.h. Hören von
nicht stimmhaften Geräuschen, wie Dröhnen, Poltern, Knallen auftreten.
Das
Phänomen des Gedankenlautwerdens schildert E.T.A.Hoffmann in dem Satz: „Indem
er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer
grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst.- Er
hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl.“(Reclam,Seite 29,
Zeile 14)
Bei
dem Beginn des ersten akuten Wahnsinnsanfalles kommt es bei Nathanael auch zu
akustischen Halluzination sowohl in Form von Akoasmen als auch zum Hören von
Stimmen in Rede und Gegenrede. E.T.A. Hoffmann schildert die Szene wie die
innere Erlebniswelt des Kranken, der die Stimmen für Realität hält.
Schon auf der Treppe, auf dem Flur, vernahm er
ein wunderliches Getöse; es schien ihm aus Spalanzanis Studierzimmer
herauszuschallen.- Ein Stampfen- ein Klirren- ein Stossen- Schlagen gegen die Tür,
dazwischen Flüche und Verwünschungen. „Lass los- lass los - Infamer -
Verruchter- Darum Leib und Leben gesetzt? -ha, ha, ha!- u.s.w.“ Es waren
Spalanzanis und des grässlichen Coppelius Stimmen, die so durcheinander
schwirrten und tobten.(Reclam Seite 36, Zeile 36)
Die
reale Anwesenheit des Coppelius, der Gestalt seiner Kindheitserinnerung, ist
dabei garnicht möglich, und beim Betreten des Raumes sieht er jetzt den
Italiener Coppola, der als Optiker ja tatsächlich mit dem Physikprofessor
Spalanzani zusammenarbeitet. . Das Stimmenhören leitet bei Nathaniel
unmittelbar die erste akute Krise ein mit Erregungszustand, wahnhafter
Situationsverkennung und tätlichem Angriff gegen den Professor Spalanzani., den
er zu erwürgen droht.
Akutes Erkrankungsstadium – die katatone Krise
Klaus
Conrad bezeichnet in „Beginnende
Schizophrenie“ das akute Stadium der katatonen Erregung als „apokalyptische Phase“.
Er schreibt:
Wir haben es zu tun mit Menschen, teils in
schwerster Angst, teils in rauschhaft erhobener Stimmung, die gänzlich
unverständliche Handlungen begehen, die
dennoch für den Kranken einen bestimmten,
wenn auch vielleicht „symbolischen“ Sinn zu haben scheinen, den aber niemand
verstehen kann. Treten die Kranken aus der katatonen Phase wieder heraus,...so
gelingt es nur selten, von ihnen zu erfahren, was in der zurückliegenden
katatonen Phase eigntlich erlebt wurde. Fast immer sind es nur Bruchstücke...
Im
weiteren versucht Conrad die katatonen Verhaltensweisen seiner Patienten im
Kontext ihrer inneren Erlebniswelt verstehbar zu machen.
Bei
Nathanael ist es so, dass er Spalanzani und Copppola bei der Zerstörung der
Holzpuppe Olimpia zu sehen glaubt, weshalb er in höchster Erregung eingreift.
Den
katatonen Ausbruch beschreibt E.T.A.Hoffmann mit den Worten: – Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden
Krallen und fuhr in sein Inneres hinein, Sinn und Gedanken zerreissend. „Hui –
hui – hui! -Feuerkreis,- dreh dich- lustig .- lustig-(....)
Seine Worte gingen unter in entsetzlichem
tierischen Gebrüll. So in grässlicher Raserei tobend wurde er nach dem
Tollhause gebracht. (Reclam, Seite 38, Zeile 5)
Die
sprachlichen Stereotypien und echolalischen Äusserungen Schizophrener in der katatonen Erregungsphase gehören
zur typischen Symptomatik, die in Folge der heutigen pharmakologischen
Therapiemöglichkeit allerdings seltener geworden sind.
Deshalb
sei hier aus dem Lehrbuch der Psychiatrie von Binswanger aus dem Jahre 1911
zitiert:
„Die
Erregungsphase der Katatoniker kennzeichnet sich auf sprachlichem Gebiete
gelegentlch auch durch die Produktion ganz unverständlicher, durch sinnlose
Wort- und Silbengruppierungen ausgezeichneter Satzbildungen, in welchen Reime
und Alliterationen vielfach verwandt werden“.
Im
Falle Nathanaels wissen wir, dass das Wort „Feuerkreis“ ein Bruchstück eines
Gedichtes ist, das er in der Frühphase der Erkrankung verfasst hatte, um es
Clara vorzulesen.(Reclam, Seite 23, Zeile 23)
Die Konsolidierungsphase
Aufgrund
der modernen Psychopharmakotherapie ist es
möglich, die katatone Akutphase im Laufe von wenigen Tagen zu bessern und oft
zu beheben. Dadurch ist es zur erheblichen Verkürzung der klinischen
Aufenthalte akut schizophrener Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern
gekommen.
Klaus Conrad berichtet in „Die beginnende Schizophrenie“ über eine Kasuistik aus den
Jahren 1941- 42, als es diese Therapie noch nicht gab. Er beschreibt Fälle
(Rainer) in denen die katatone Wahnsymptomatik schon nach einigen Wochen
spontan abklang.
„Er (Fall Rainer) glaubte noch lange, den Sinn
seines Wut- und Tobsuchtsanfalles erklären zu können, so als habe er doch Recht
gehabt. Die Beeinflussungsgefühle blieben noch für eine Zeit bestehen, dann
erfolgte eine fast vollständige Korrektur.
Man könnte sagen, der Wahn sei von ihm
abgefallen.“
Wie
lange die Konsolidierungsphase bei Nathanael dauerte, wissen wir nicht .Es
heisst in der Erzählung nur, dass er nach langer Erkrankung zu Hause im Bett
lag und wie aus schwerem, fürchterlichem Traum erwachte, und Clara, Lothar und Sigmund an seinem Bett standen. Er
bedankt sich, dass die Freunde trotz alledem zu ihm gehalten haben . Clara
sagt: „Endlich, endlich, o mein
herzlieber Nathanael- nun bist du genesen von schwerer Krankheit – nun bist du
wieder mein!“- Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden (Reclam,
Seite 40,Zeile13)
Nach
dieser scheinbaren Genesung heisst es von Nathanael, er ,“war milder und kindlicher geworden,
als er je gewesen.“ (Reclam, Seite40, Zeile22)
Eine
solche Änderung des Charakters nach akutem schizophrenem Schub kennt man als postpsychotisches Residualsyndrom mit
Verringerung des energetischen Potentials, was einer kindhaften
Gemütsveränderung entsprechen kann.
In
der heutigen Situation der psychopharmakologischen Therapiemöglichkeit sehen
wir leider oft, dass die Patienten wegen der erfreulichen Besserung und
vermeintlichen Gesundung die vorbeugende Medikation absetzen, so dass die
nächste katatone Akutphase dann nicht allzu lange auf sich warten lässt. Wegen
der stets unberechenbaren Aggressions-
und Suicidgefahr sollte diese jedoch verhindert werden.
In
dem grundlegenden Lehrbuch von Berger: „Psychiatrie und
Psychotherapie1999“ heisst es: „Katatone Zustandsbilder können zu
kritischen Situationen für Patienten und ihre Umgebung führen. In der katatonen
Erregung, nicht selten unvorhergesehen und plötzlich auftretend (Raptus) können
die Patienten toben und schreien, gegen Wände und Türen anrennen und sich dabei
verletzen oder Anwesende angreifen“. 1)
Im
Falle des Nathanael führt die zweite
katatone Krise, die anlässlich eines gemeinsamen Spazierganges mit Clara
raptusartig mit höchster Erregung, und wieder mit echolalischen Ausrufen
ausbricht, zu dem lebensgefährlichen Angriff gegen seine Verlobte, und dann zum
Suizid durch den Sprung vom Aussichtsturm.
Da
er auf dem Turm in der katatonen Erregung tobt, lacht und schreit, hat sich
eine Menschenmenge auf dem Platz versammelt und „unter ihnen ragte
riesengross der Advokat Coppelius hervor. Nathanael (...) wurde den Coppelius
gewahr und mit gellendem Schrei (...) sprang er über das Geländer.“(Reclam
Seite41,Zeile 6)
Nach
Nathanaels Tod ist Coppelius verschwunden. Er existierte in diesem Moment nur
in der Wahnwelt des Kranken.
Schizophrenie – was ist das?
Die
Katatonie wurde von Kahlbaum schon um 1874 beschrieben. Emil Kraepelin, der
Vater der systematischen, wissenschaftlichen Psychiatrie fand den Ausdruck
„Dementia praecox“. Damit wollte er die Demenz der alten Menschen von der
Geisteskrankheit der jungen Menschen
abtrennen.
Eugen
Bleuler fand für die von Kraepelin umrissene Erkrankung in seinem
richtungsweisenden Buch „Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien“
1911 den Ausdruck „Schizophrenie“, mit dem er auf die Spaltung zwischen
emotionalen und kognitiven Vorgängen im
Seelenleben der Erkrankten hinweisen wollte. Darüber hinaus stellt er fest,
dass es bei der Schizophrenie eben nicht zur Demenz, d.h. Verlust der
Intelligenz kommt, sondern zu einer krankhaften Störung in der Anwendung der
Intelligenz.
Bis
heute finden wir bei Schizophreniekranken kein greifbares organisches Korrelat
am Gehirn. Noch immer gilt die Feststellung Kurt Schneiders, der sagt, die
Schizophrenie sei das „Symptomenbild
einer bisher noch unbekannten Hirnkrankheit“.
Modellhaft
kann man sich allenfalls vorstellen, dass es sich um einen Defekt in der
interneuronalen Informationsverarbeitung durch fehlerhafte Übertragung durch
die Neurotransmitter an den Synapsen
handelt. Der Erkrankte empfängt dadurch falsche Informationen aus der Umgebung
und sendet falsche Gedanken und Emotionen zurück, so dass er sich,- wie man
volkstümlich sagt,-
„in
einem falschen Film“ befindet. Diese These wird unterstützt durch
die Tatsache, dass die modernen Psychopharmaka, die bei Schizophrenie wirken,
an den Neurotransmittern ansetzen.
Hereditäre
Einflüsse spielen sicher eine Rolle. Deshalb ist die Frage des Arztes bei
Verdacht auf Schizophrenie unerlässlich: „Gibt es Psychosen in Ihrer
Familie?“
Da
mit den heutigen hirnorganischen Untersuchunsmethoden die Diagnose
Schizophrenie nicht zu sichern ist, bleibt die Sicherung der Diagnose
angewiesen auf die typischen psychischen
Symptome und auf die diagnosenspezifische Verlaufsform der Krankheit.
Solange
die zugrunde liegende hirnorganische Funktionsstörung nicht diagnostisch
fassbar ist, wird die Schizophrenie immer wieder zu Versuchen führen, diese
Krankheit psychologisch zu „verstehen“.
Die
Schizophrenieforschung ist damit seit hundert Jahren das Kampffeld zwischen
Versuchen der naturwissenschaftlichen Erklärung und der
geisteswissenschaftlichen Deutung der schizophrenen Phänomene.
In
seiner Abhandlung „Das Unheimliche“
(1919) greift Sigmund Freud die Erzählung E.T.A.Hoffmanns auf und verwertet den
Fall Nathaniel als Beweis für den von ihm selbst hypothetisierten
Ödipuskomplex.
Unter
Annahme der Diagnose einer schizophrenen Psychose bei dem Patienten Nathanael
fällt es dem psychiatrisch orientierten Leser dieser Abhandlung tatsächlich
schwer, den Gedankengängen Sigmund Freuds Folge zu leisten und sich von seiner
Art der Beweisführung überzeugen zu lassen.
Freud schreibt: „Der Schluss der
Erzählung macht es ja klar, dass der Optiker Coppola wirklich der Advokat
Coppelius und also auch der Sandmann ist.
Eine intellektuelle Unsicherheit kommt hier
nicht mehr in Frage: wir wissen jetzt, dass uns nicht die Phantasiegebilde
eines Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen.
Das Studium der Träume, der Phantasien und der
Mythen hat uns gelehrt, dass die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden,
häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung
des mythischen Verbrechers Ödipus ist nur eine Ermässigung für die Strafe der
Kastration (....)
Viele andere der Züge der Erzählung erscheinen
willkürlich und bedeutunslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur
Kastrationsangst ablehnt, und werden sinnreich, sowie man für den Sandmann den
gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet.“Als Fussnote folgt: „Das von der Verdrängung am stärksten betroffenen Stück des Komplexes,
der Todeswunsch gegen den bösen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des
guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird“.
Seine
These von den unterbewussten Verdrängungsmechanismen eröffnet Sigmund Freud
offenbar die Möglichkeit, Personen und Vorgänge solange zu verschieben, bis er
den von ihm hypothetisierten Ödipuskomlex als bewiesen darstellen kann.
Beim
Lesen der Hoffmanschen Erzählung erfährt man hingegen nichts darüber, dass in
der verborgenen Phantasie des Knaben Nathanael der Tod des Vaters von ihm
gewünscht wird, weil er irgend eine Bestrafung von ihm fürchtet.
Im
Gegensatz zu Freuds These sehe ich in der Erzählung E.T.A.Hoffmanns durchaus
die meisterliche „Darstellung der
Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen“, dessen Wahnsinn von Eugen Bleuler
hundert Jahre später den Namen „Schizophrenie“ erhielt.
Wenn
man die Schizophrenie als Defekt der Informationsverarbeitung im Gehirn des
Menschen versteht, bleiben „verstehende“ Deutungen der schizophrenen
Wahnsymptome eigentlich ein Spiel mit Worten.
Klaus
Conrad schreibt dazu: „Es will uns
scheinen, als hätten wir den Raum der Wissenschaft in seinem eigentlichen,
kritisch – empirischen Sinn verlassen und den nicht minder lockenden des
intuitiven Künstlers betreten.“
Der
Künstler E.T.A.Hoffmann war den kritisch-empirischen Wissenschaftlern in der
Beschreibung psychiatrischer Krankheitszustände offenbar hundert Jahre voraus,
denn so präzise wie er hat zu seiner Zeit noch kein Anderer die Wahnsymptomatik eines an Schizophrenie
erkrankten jungen Menschen geschildert.
Literatur:
Berger.
Mathias.: Psychiatrie und Psychotherapie, Urban u. Schwarzenberg,1998
Binswanger,
O. u.a. Lehrbuch der Psychiatrie, Gustav Fischer Jena, 1911
Bleuler,
Eugen: Die Gruppe der Schizophrenien, Leipzig, Wien, 1911
Conrad,
Klaus: Die beginnende Schizophrenie, Thieme 1979
Freud
Sigmund: Das Unheimliche (1919) S. Fischer, Studienausgabe Bd IV
Hoffmann,
E.T.A.: Der Sandmann,1817, Reclam Nr. 230, 1991, 2003
Huber,
Fritz, Psychiatrie, Lehrbuch,
Schattauer,7.Auflage 2005
Jaspers,
Karl: Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913, 6.Auflage 1953
Kahlbaum:
Die Katatonie oder das Spannungsirresein, Berlin, Hirschwald,1874
Kraepelin,
Emil: Einführung in die Psychiatrische Klinik, Barth, Leipzig, 1916
Kudszus,Winfried,
Literatur und Schizophrenie, Niemeyer,Tübingen,1977
Pinel,
Philippe: Abhandlung über Geistesverirrung oder Manie, Wien,1801
Scharfetter,C.:
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