E.T.A Hoffmanns "Der Sandmann" aus psychatrischer Sicht




Die Erzählung „Der Sandmann“
von E.T.A.Hoffmann (1776 - 1822)
aus psychiatrischer Sicht.

Dr. Rüdiger Tessmann
Facharzt für Neurologie und Psychatrie
Zusammenfassung:
Der Verlauf der psychotischen Erkrankung des Studenten Nathanael in der Erzählung von  E.T.A.Hoffmann, der für eine kataton verlaufende Schizophrenie (ICD 10,F 20.2) spricht, wird mit den modernen wissenschaftlich-psychiatrischen Beschreibungen der Schizophrenie  verglichen. Dabei soll zum Ausdruck gebracht werden, mit welch bewunderungswerter Introspektion und Präzision der Dichter der Romantik eine Geisteskrankheit beschrieb, die erst hundert Jahre später durch Eugen Bleuler ihren Namen erhielt.
Im Weiteren wird die psychoanalytische Deutung Sigmund Freuds der Erzählung in seiner Abhandlung „Das Unheimliche“ zum Anlass genommen, auf den nunmehr hundert Jahre alten Streit hinzuweisen, ob es im Sinne wissenschaftlicher Psychiatrie überhaupt legitim ist, schizophrene Wahninhalte mit Hilfe mythologischer Metaphern analytisch zu deuten.

Die Erzählung Der Sandmann  von E.T.A. Hoffmann, die Geschichte des Physikstudenten Nathanael, der dem Wahnsinn verfällt und sich durch den Sprung von einem Turm suicidiert, repräsentiert für die Germanisten die Tendenz der Romantik zur Darstellung des Unheimlichen und Grauenhaften, mit der im Gegensatz zur rationalen Klarheit der Klassik auch die tieferen Seelenbereiche des Menschlichen ausgelotet wird. Mit den germanistischen Kommentierungen zu der Erzählung kann man Bände füllen.
Mit der tanzenden Holzpuppe Olimpia in Hoffmanns Erzählungen hat die Kurzgeschichte Musik – und Balettgeschichte geschrieben.
Sigmund Freud hat sich der Erzählung Hoffmanns angenommen und sie in seiner Abhandlung über „Das Unheimliche“ als Beweis seiner Hypothese vom Ödipuskomplex dargestellt.
Seltsamerweise ist bisher noch kein Psychiater auf die Idee gekommen, in der von E.T.A.Hoffmann gebotenen Krankengeschichte des Studenten Nathanael eine frühe, in seiner Präzision zu seiner Zeit noch nicht dagewesene Beschreibung des klassischen Verlaufes einer schizophrenen Erkrankung der katatonen Verlaufsform (ICD 120, F20,2) zu erkennen und dies mit einer Abhandlung zu würdigen.

Hauptfigur der Geschichte ist der Physikstudent Nathanael , der plötzlich in eine angstvolle und hoffnungslose Stimmung verfällt, sich an alptraumartige Kindheitserlebnisse erinnert, und der nach Heimkunft aus dem Studienort durch seltsames Verhalten auffällt mit einer Neigung zu düsteren Gedanken und Vorahnungen.  Dann kommt es zweimal zu Wahnsinnsattacken. Beim ersten Mal greift er seinen Physikprofessor tätlich an und wird in ein Irrenhaus verbracht. Nach langer Krankheit scheint er genesen, jedoch bricht der Wahnsinn zum zweiten Mal aus. Er greift seine Verlobte in lebensgefährlicher Weise an und springt dann unter entfremdetem Lachen und Ausrufen von echolalischen Satzfetzen von einem Turm.

Etwa ein Jahrhundert nach der Niederschrift der Erzählung  hat die wissenschaftlich-empirische Psychopathologie durch Emil Kraepelin, Karl Jaspers, Eugen Bleuler, Kurt Schneider, Klaus Conrad u.a. eine spezifische Terminologie entwickelt, die uns für die Beschreibung schizophrener Wahnsymptome die geeigneten Worte vermittelt.
Um so bewundernswerter ist die introspektive und sprachliche Fähigkeit des Dichters E.T.A.Hoffmann, das subjektive Wahnerleben seines tragischen Protagonisten einfühlbar zu schildern. Er beschreibt in lehrbuchhafter Präzision die Symptomatik einer Geisteskrankheit, die es zu seiner Zeit natürlich schon gab, die aber erst etwa hundert Jahre später durch Eugen Bleuler den Namen „Schizophrenie“ erhielt.

Zu den psychiatrischen Kenntnissen und Motivationen des Autors :
Als Jurist gab  Hoffmann psychiatrische Gutachten zur Bestimmung der freien Willensbestimmung in Auftrag. In Bamberg war er mit dem Nervenarzt und Leiter der Irrenanstalt Dr. Malcus befreundet und diskutierte mit ihm über seelische Abartigkeiten. Er las psychiatrische Schriften seiner Zeit, z.B. die Schriften des berühmten französischen Psychiaters Philippe Pinel. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er in seinem beruflichen oder privaten Leben die schizophrene Erkrankung eines jungen Mannes erlebt und mit erhöhter Aufmerksamkeit beobachtet  hat.
Hoffmann schreibt :Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen.“(Reclam S.17, Zeile 32) 
Recht hat er; die Symptomatik der Schizophrenie ist zu seltsam, um von Menschen erfunden zu werden.

Krankengeschichte des Studenten Nathaniel

Familienanamnese:
Über  Geisteskrankheiten unter Vorfahren gibt die Erzählung keine Auskunft.
Der Vater wird als freundlich und gemütvoll geschildert. 
Oft erzählte er uns viele wunderbare Geschichten und geriet darüber so in Eifer, dass ihm immer die Pfeife ausging, die ich (Nathaniel) , ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anzünden musste, welches mir denn ein Hauptspass war.“ (Reclam Seite 4, Zeile 20)
Die Mutter wird als liebevoll beschrieben, wie sie den Sohn über die harmlose Bedeutung des Sandmannes aufklärt. Nach dem Tod ihres Mannes nimmt sie noch zwei Waisenkinder aus der Verwandtschaft zu sich, Lothar und Clara, zu denen er ein herzliches Verhältnis entwickelt.
Praepsychotische Persönlichkeit: 
Bis zum Beginn seines Studiums in der Stadt G. wies er offenbar keine Zeichen einer psychopathischen oder neurotischen Persönlichkeitsstörung auf.
Die kluge und lebenstüchtige Clara liebte ihn und war von seiner plötzlichen Wesensänderung tief erschrocken.
In seinem Brief, den er zu Beginn seiner Erkrankung schreibt, erzählt er, dass eine Kinderfrau ihm den Sandmann ganz schrecklich geschildert habe als einen Unhold, der die Augen der Kinder herrausreisst um sie an seine eigenen Kinder zu verfüttern.
Seit dieser Zeit habe er sich in seiner Fantasie immer mehr mit Spuk beschäftigt.
„Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu lesen.“(Reclam, Seite 6, Zeile 10)
Im gleichen Brief beschreibt er den Alptraum seines Erlebnisses im 10. Lebensjahr, wie er des nachts den Vater mit dem unsymphatischen Coppelius bei chemischen Versuchen am Ofen beobachtet und Coppelius ihm droht, seine Augen mit glühender Kohle zu verbrennen, was auf Fürbitte des Vaters nicht geschieht.
Die Erzählung legt nahe, diesen kindlichen Alptraum im Rahmen einer hoch fieberhaften Erkrankung, etwa als Fieberdelir zu sehen. Er erwacht daraus „wie aus einem Todesschlaf, die Mutter hatte sich über mich hingebeugt. „Ist der Sandmann noch da?“ stammelte ich. „Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!“ - So sprach die Mutter und küsste  und herzte den wiedergewonnenen Liebling“.- (Reclam Seite 19, Zeile 8)
Auch danach leidet er noch lange an „hitzigem Fieber“.
Die chemischen Versuche des Vaters und des Coppelius führen später zum Tod des Vaters durch eine Explosion.

Krankheitsbeginn:
In seinem Brief, den er aus der Universitätsstadt an Lothar schreibt, datiert Nathanael den Beginn allen Übels auf den 30. Oktober 12.00 Uhr mittags, als ein italienischer Brillenverkäufer in sein Zimmer tritt, dem er eine ungewöhnliche, bedrohliche Bedeutung beimisst.
Er schreibt:“ Du ahnest, dass nur eigene, tief in mein Leben eingreifende Beziehungen diesem Vorfall Bedeutung geben können, ja, dass wohl die Person jenes unglückseligen Krämers gar feindlich auf mich wirken muss.“(Reclam,Seite 3,Zeile33)
Klaus Conrad vergleicht solche ersten wahnhaften Situationsverkennungen bei der beginnenden Schizophrenie mit „dem ersten Wetterleuchten als Zeichen des heraufziehenden Gewitters“. 
Karl Jaspers nennt das in seiner „Allgemeinen Psychopathologie (1913):“Abnormes Bedeutungsbewusstsein“
Nathanael behandelt den ambulanten Händler unangemessen grob und sieht in ihm plötzlich einen Doppelgänger des unsympathischen Advokaten Coppelius, den er aus seiner Kindheit erinnert, und  dem er  die Schuld am Tode seines Vaters zuschreibt. Später, im zweiten Brief korrigiert er dies, indem er klarstellt, dass Coppelius ein  Deutscher war, während Coppola Italiener ist und einen piemontesischen Dialekt spricht.(Reclam,Seite16,Zeile18) Trotzdem bleiben Coppelius und Coppola für ihn Unheil bringende Gestalten, die sein Leben auf das Tiefste verdüstern und verhexen.

1)    Bleuler beschreibt 1911 in seinem Buch “Die Gruppe der Schizophrenien“ im Kapitel:“Die akzessorischen Erinnerungsstörungen“,dass „ alte, oft bis in die frühe Kindheit zurückgehende Erinnerungen wie frisch auftauchen oder auch sich aufdrängen. Im letzteren Fall kann man geradezu von Zwangserinnern sprechen. (...) Sie können im Sinne von Erinnerungsillusionen verändert werden, (...) wieder verschwinden, aber auch dauernd von der Psyche Besitz nehmen.“ 
Bei Nathanael ist dies der Fall. Clara will ihm helfen, diese böse Erinnerung zu vertreiben, indem sie sagt:“Ja, Nathanael , du hast Recht, Coppelius ist ein böses, feindliches Prinzip(...), wie eine teuflische Macht, die sichtbar in dein Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst.“
Das aber kann Nathanael nicht gelingen, denn er ist aufgrund der beginnenden Krankheit ganz von einer wahnhaften Stimmung erfasst, die er mit den Worten beschreibt :
„Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten! - Dunkle Ahnungen eines grässlichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl.-“(Reclam,Seite 3, Zeile 15)
Klaus Conrad bezeichnet in seinem Buch „Beginnende Schizophrenie“ das erste Hineintreten in die Wahnwelt als „Trema“ mit einem Gestimmtsein von Druck und Spannung, als Unruhe und Angst. Er vergleicht dies mit der Situation eines Schauspielers, der auf die Bühne tritt und seine Rolle spielen muss.
Danach kommt es zu der „apophänen Phase.“
Jaspers beschreibt diese als „das unmittelbar sich aufzwingende Wissen von den Bedeutungen“- eben in der Art eines Offenbarwerdens, einer Offenbarung- als das wesentliche Kennzeichen primären Wahnerlebens.
In der Initialphase der Schizophrenie fühlt sich der Kranke wie hypnotisiert, von aussen gesteuert und beeinflusst und er erlebt die Umwelt verfremdet mit auf ihn bezogenen Bedeutungen.
In der Diagnostik der Schizophrenie spielt nach Kurt Schneider die Wahnwahrnehmung eine bedeutende Rolle.
Kurt Schneider: “Man spricht von Wahnwahrnehmungen, wenn wirklichen Wahrnehmungen ohne verstandesmässig (rational) oder gefühlsmässig (emotional) verständlichen Anlass eine abnorme Bedeutung, meist in der Richtung der Eigenbeziehung, beigelegt wird. Diese Bedeutung ist von besonderer Art: fast immer wichtig, eindringlich, gewissermassen persönlich gemeint, wie ein Wink, eine Botschaft aus einer anderen Welt. Es ist, als spräche aus der Wahrnehmung eine höhere Wirklichkeit. Da es sich nicht um eine Veränderung des Wahrgenommenen, sondern um eine  solche seiner Bedeutung handelt, gehören Wahnwahrnehmungen(...) zu den Störungen des Denkens. Sie sind stets ein schizophrenes Symptom, wenn auch nicht ganz ohne Ausnahme  ein Anzeichen dessen, was wir klinisch eine Schizophrenie heissen(.....)   
Auch die Personenverkennung gehört häufig zu den Wahnwahrnehmungen, jedenfalls zum Wahn.(....)
Wenn wir sagten, dass die Wahnwahrnehmung nicht aus einer Stimmung ableitbar sei, so widerspricht dem nicht, dass auch der Wahnwahrnehmung häufig eine von jenem Prozess getragene Wahnstimmung vorausgeht, ein Erleben der Unheimlichkeit, seltener Erhebung.“

Im Falle des Studenten Nathanael schildert E.T.A.Hoffmann in einprägsamer Art das Hineingleiten in die Wahnstimmung des Unheimlichen, ausgelöst durch die Wahnwahrnehmung einer aufgezwungenen verfremdeten Bedeutung des Brillenhändlers Coppola und die wahnhafte Personenverwechslung mit dem Advokaten Coppelius, der eine Figur seiner Kindheitserinnerung war.  

Kurt Schneider unterscheidet die Wahnwahrnehmung von dem Wahneinfall.
Unter einem Wahneinfall verstehen wir Einfälle, wie den der religiösen oder politischen Berufung, der besonderen Fähigkeit, der Verfolgung, des Geliebtwerdens.

Bei unserem Patienten Nathanael haben wir den Wahneinfall, den Tod des Vaters  rächen zu müssen durch Verfolgung des Brillenhändlers Coppola (Reclam Seite 12, Zeile 15) und auch den Wahneinfall des Geliebtwerdens durch die Holzpuppe Olimpia, die er stundenlang durch das von Coppola gekaufte Fernglass anstarrt.(Reclam, Seite 29, Zeile 25).
Bei der Einladung im Hause des Professor Spalanzani wird er durch seinen ekstatischen Liebeswahn gegenüber Olimpia für die Gäste verhaltensauffällig.  „Er musste vor Schmerz und Entzücken laut aufschreien.“Olimpia!“ - Alle sahen sich nach ihm um, manche lachten“ und der Domorganist rief erstaunt:“Nun, nun!“(Reclam, Seite31, Zeile19) Auch beim Tanz bemerkt er „halbleises, mühsam unterdrücktes Gelächter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob.“(Reclam,Seite32,Zeile14)  
Für die wahnhaften Erlebnisse und Eingebungen besteht für den Erkrankten die sogenannte Wahngewissheit. Logische Argumente vermögen diese Gewissheit des Kranken nicht zu erschüttern.
Clara schreibt an Nathanael :„Gerade heraus will ich dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Aussenwelt aber daran wohl wenig teilhatte“. - (Reclam, Seite 13, Zeile 23)
Recht hat sie, aber bei Nathanael kommen diese Mahnungen nicht an.

Für die Menschen der Umgebung zeigt Nathanael eine
schizophrene Wesensänderung. :“Alle fühlten das, da Nathaniel gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen durchaus verändert sich zeigte. Er versank in düstere Träumereien, und trieb es bald so seltsam,wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm ein Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur  dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene...
Der verständigen Clara war diese mystische Schwärmerei im höchsten Grade zuwider, jedoch schien es vergebens, sich auf Widerlegung einzulassen.“(Reclam, Seite 21, Zeile 23)

In der Erzählung wird ausführlich über Nathanaels Neigung berichtet, selbstverfasste Dichtungen vorzulesen, die Clara beunruhigen oder langweilen. Es heisst:
Sonst hatte er eine besondere Stärke in anmutigen, lebendigen Erzählungen, die er aufschrieb, und die Clara mit innigstem Vergnügen anhörte, jetzt waren seine Dichtungen düster, unverständlich, gestaltlos(...)Nathanaels Dichtungen waren in der Tat sehr langweilig(...)Clara konnte ihren Unmut über Nathanaels dunkle, düstere, langweilige Mystik nicht überwinden.(Reclam,Seite 22, Zeile35)
Hier stossen wir wiederum auf ein Charakteristikum des sprachlichen Ausdrucks Schizophrener.
In einem Aufsatz des Wiener Psychiaters Leo Navratil  lesen wir:
„Je deutlicher die Merkmale der (schizophrenen) Psychose hervortreten, einen um so mehr dichterischen Charakter nehmen die Sprachäusserungen der Patienten an.
Oft ist es so, dass mit grossem Pathos und in dichterischer Form grosse Banalitäten vorgetragen werden, manchmal finden sich darunter auch treffende, originelle Gedanken und sprachliche Formulierungen. Eine gewisse Dunkelheit und ein gewisser Tiefsinn – manchmal Scheintiefsinn – sind nicht selten. Jedenfalls wird der subjektive Bedeutungsgehalt des psychotischen Erlebens von der Umgebung des Betroffenen meist nicht geteilt“. 1)
So geht es auch Clara, die Nathanael rät, das ganze düstere Zeug ins Feuer zu werfen.
.  
Immer, wenn die schizophrene Erkrankung bei einem jungen, intelligenten Menschen auftritt, versuchen Familienangehörige und Freunde zunächst mit wachsender Verzweiflung, den überspannt und ungewöhnlich wirkenden Gedankenäusserungen und Verhaltensweisen durch rationale Argumente zu begegnen, oder sie als Stressfoge zu erklären, bis endlich die Entscheidung fällt, den jungen Menschen dazu zu bewegen, einen Nervenarzt aufzusuchen.

Zu der schizophrenen Symptomatik gehört insbesondere das Phänomen der akustischen Halluzinationen, die als Hören von Stimmen imperativen Inhaltes, als Stimmen in Rede und Gegenrede oder als Gedankenlautwerden, d.h. Hören der eigenen Gedanken, und schliesslich auch als Akoasmen, d.h. Hören von nicht stimmhaften Geräuschen, wie Dröhnen, Poltern, Knallen auftreten.

Das Phänomen des Gedankenlautwerdens schildert E.T.A.Hoffmann in dem Satz:  Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst.- Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl.“(Reclam,Seite 29, Zeile 14)
Bei dem Beginn des ersten akuten Wahnsinnsanfalles kommt es bei Nathanael auch zu akustischen Halluzination sowohl in Form von Akoasmen als auch zum Hören von Stimmen in Rede und Gegenrede. E.T.A. Hoffmann schildert die Szene wie die innere Erlebniswelt des Kranken, der die Stimmen für Realität hält.
Schon auf der Treppe, auf dem Flur, vernahm er ein wunderliches Getöse; es schien ihm aus Spalanzanis Studierzimmer herauszuschallen.- Ein Stampfen- ein Klirren- ein Stossen- Schlagen gegen die Tür, dazwischen Flüche und Verwünschungen. „Lass los- lass los - Infamer - Verruchter- Darum Leib und Leben gesetzt? -ha, ha, ha!- u.s.w.“ Es waren Spalanzanis und des grässlichen Coppelius Stimmen, die so durcheinander schwirrten und tobten.(Reclam Seite 36, Zeile 36)

Die reale Anwesenheit des Coppelius, der Gestalt seiner Kindheitserinnerung, ist dabei garnicht möglich, und beim Betreten des Raumes sieht er jetzt den Italiener Coppola, der als Optiker ja tatsächlich mit dem Physikprofessor Spalanzani zusammenarbeitet. . Das Stimmenhören leitet bei Nathaniel unmittelbar die erste akute Krise ein mit Erregungszustand, wahnhafter Situationsverkennung und tätlichem Angriff gegen den Professor Spalanzani., den er zu erwürgen droht.

Akutes Erkrankungsstadium – die katatone Krise
Klaus Conrad bezeichnet in  „Beginnende Schizophrenie“ das akute Stadium der katatonen Erregung alsapokalyptische Phase“. Er schreibt:
Wir haben es zu tun mit Menschen, teils in schwerster Angst, teils in rauschhaft erhobener Stimmung, die gänzlich unverständliche Handlungen begehen, die dennoch für den Kranken einen bestimmten, wenn auch vielleicht „symbolischen“ Sinn zu haben scheinen, den aber niemand verstehen kann. Treten die Kranken aus der katatonen Phase wieder heraus,...so gelingt es nur selten, von ihnen zu erfahren, was in der zurückliegenden katatonen Phase eigntlich erlebt wurde. Fast immer sind es nur Bruchstücke...
Im weiteren versucht Conrad die katatonen Verhaltensweisen seiner Patienten im Kontext ihrer inneren Erlebniswelt verstehbar zu machen.
Bei Nathanael ist es so, dass er Spalanzani und Copppola bei der Zerstörung der Holzpuppe Olimpia zu sehen glaubt, weshalb er in höchster Erregung eingreift.

Den katatonen Ausbruch beschreibt E.T.A.Hoffmann mit den Worten: – Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein, Sinn und Gedanken zerreissend. „Hui – hui – hui! -Feuerkreis,- dreh dich- lustig .- lustig-(....)
Seine Worte gingen unter in entsetzlichem tierischen Gebrüll. So in grässlicher Raserei tobend wurde er nach dem Tollhause gebracht. (Reclam, Seite 38, Zeile 5)

Die sprachlichen Stereotypien und echolalischen Äusserungen Schizophrener in der katatonen Erregungsphase gehören zur typischen Symptomatik, die in Folge der heutigen pharmakologischen Therapiemöglichkeit allerdings seltener geworden sind.
Deshalb sei hier aus dem Lehrbuch der Psychiatrie von Binswanger aus dem Jahre 1911 zitiert:
Die Erregungsphase der Katatoniker kennzeichnet sich auf sprachlichem Gebiete gelegentlch auch durch die Produktion ganz unverständlicher, durch sinnlose Wort- und Silbengruppierungen ausgezeichneter Satzbildungen, in welchen Reime und Alliterationen vielfach verwandt werden“.
Im Falle Nathanaels wissen wir, dass das Wort „Feuerkreis“ ein Bruchstück eines Gedichtes ist, das er in der Frühphase der Erkrankung verfasst hatte, um es Clara vorzulesen.(Reclam, Seite 23, Zeile 23)

Die Konsolidierungsphase
Aufgrund der modernen Psychopharmakotherapie ist es möglich, die katatone Akutphase im Laufe von wenigen Tagen zu bessern und oft zu beheben. Dadurch ist es zur erheblichen Verkürzung der klinischen Aufenthalte akut schizophrener Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern gekommen.
Klaus Conrad berichtet in „Die beginnende Schizophrenie“ über eine Kasuistik aus den Jahren 1941- 42, als es diese Therapie noch nicht gab. Er beschreibt Fälle (Rainer) in denen die katatone Wahnsymptomatik schon nach einigen Wochen spontan abklang.
„Er (Fall Rainer) glaubte noch lange, den Sinn seines Wut- und Tobsuchtsanfalles erklären zu können, so als habe er doch Recht gehabt. Die Beeinflussungsgefühle blieben noch für eine Zeit bestehen, dann erfolgte eine fast vollständige Korrektur.
Man könnte sagen, der Wahn sei von ihm abgefallen.“ 
Wie lange die Konsolidierungsphase bei Nathanael dauerte, wissen wir nicht .Es heisst in der Erzählung nur, dass er nach langer Erkrankung zu Hause im Bett lag und wie aus schwerem, fürchterlichem Traum erwachte, und Clara,  Lothar und Sigmund an seinem Bett standen. Er bedankt sich, dass die Freunde trotz alledem zu ihm gehalten haben . Clara sagt: „Endlich, endlich, o mein herzlieber Nathanael- nun bist du genesen von schwerer Krankheit – nun bist du wieder mein!- Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden (Reclam, Seite 40,Zeile13)                

Nach dieser scheinbaren Genesung heisst es von Nathanael, er ,“war milder und kindlicher geworden, als er je gewesen.“ (Reclam, Seite40, Zeile22)  
Eine solche Änderung des Charakters nach akutem schizophrenem Schub kennt man als postpsychotisches Residualsyndrom mit Verringerung des energetischen Potentials, was einer kindhaften Gemütsveränderung entsprechen kann.
In der heutigen Situation der psychopharmakologischen Therapiemöglichkeit sehen wir leider oft, dass die Patienten wegen der erfreulichen Besserung und vermeintlichen Gesundung die vorbeugende Medikation absetzen, so dass die nächste katatone Akutphase dann nicht allzu lange auf sich warten lässt. Wegen der stets unberechenbaren Aggressions- und Suicidgefahr sollte diese jedoch verhindert werden.
In dem grundlegenden Lehrbuch von Berger: „Psychiatrie und Psychotherapie1999“ heisst es: Katatone Zustandsbilder können zu kritischen Situationen für Patienten und ihre Umgebung führen. In der katatonen Erregung, nicht selten unvorhergesehen und plötzlich auftretend (Raptus) können die Patienten toben und schreien, gegen Wände und Türen anrennen und sich dabei verletzen oder Anwesende angreifen“. 1)
      
Im Falle des Nathanael führt die zweite katatone Krise, die anlässlich eines gemeinsamen Spazierganges mit Clara raptusartig mit höchster Erregung, und wieder mit echolalischen Ausrufen ausbricht, zu dem lebensgefährlichen Angriff gegen seine Verlobte, und dann zum Suizid durch den Sprung vom Aussichtsturm.
Da er auf dem Turm in der katatonen Erregung tobt, lacht und schreit, hat sich eine Menschenmenge auf dem Platz versammelt und „unter ihnen ragte riesengross der Advokat Coppelius hervor. Nathanael (...) wurde den Coppelius gewahr und mit gellendem Schrei (...) sprang er über das Geländer.“(Reclam Seite41,Zeile 6)
Nach Nathanaels Tod ist Coppelius verschwunden. Er existierte in diesem Moment nur in der Wahnwelt des Kranken.



Schizophrenie – was ist das?

Die Katatonie wurde von Kahlbaum schon um 1874 beschrieben. Emil Kraepelin, der Vater der systematischen, wissenschaftlichen Psychiatrie fand den Ausdruck „Dementia praecox“. Damit wollte er die Demenz der alten Menschen von der Geisteskrankheit  der jungen Menschen abtrennen.
Eugen Bleuler fand für die von Kraepelin umrissene Erkrankung in seinem richtungsweisenden Buch „Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien“ 1911 den Ausdruck „Schizophrenie“, mit dem er auf die Spaltung zwischen emotionalen und kognitiven  Vorgängen im Seelenleben der Erkrankten hinweisen wollte. Darüber hinaus stellt er fest, dass es bei der Schizophrenie eben nicht zur Demenz, d.h. Verlust der Intelligenz kommt, sondern zu einer krankhaften Störung in der Anwendung der Intelligenz.
Bis heute finden wir bei Schizophreniekranken kein greifbares organisches Korrelat am Gehirn. Noch immer gilt die Feststellung Kurt Schneiders, der sagt, die Schizophrenie sei das „Symptomenbild einer bisher noch unbekannten Hirnkrankheit“.
Modellhaft kann man sich allenfalls vorstellen, dass es sich um einen Defekt in der interneuronalen Informationsverarbeitung durch fehlerhafte Übertragung durch die Neurotransmitter an den Synapsen handelt. Der Erkrankte empfängt dadurch falsche Informationen aus der Umgebung und sendet falsche Gedanken und Emotionen zurück, so dass er sich,- wie man volkstümlich sagt,-
in einem falschen Film“ befindet. Diese These wird unterstützt durch die Tatsache, dass die modernen Psychopharmaka, die bei Schizophrenie wirken, an den Neurotransmittern ansetzen.
Hereditäre Einflüsse spielen sicher eine Rolle. Deshalb ist die Frage des Arztes bei Verdacht auf Schizophrenie unerlässlich: „Gibt es Psychosen in Ihrer Familie?“   
Da mit den heutigen hirnorganischen Untersuchunsmethoden die Diagnose Schizophrenie nicht zu sichern ist, bleibt die Sicherung der Diagnose angewiesen auf  die typischen psychischen Symptome und auf die diagnosenspezifische Verlaufsform der Krankheit.     
Solange die zugrunde liegende hirnorganische Funktionsstörung nicht diagnostisch fassbar ist, wird die Schizophrenie immer wieder zu Versuchen führen, diese Krankheit psychologisch zu „verstehen“.
Die Schizophrenieforschung ist damit seit hundert Jahren das Kampffeld zwischen Versuchen der naturwissenschaftlichen Erklärung und der geisteswissenschaftlichen Deutung der schizophrenen Phänomene.

In seiner Abhandlung „Das Unheimliche“ (1919)  greift Sigmund Freud die Erzählung E.T.A.Hoffmanns auf und verwertet den Fall Nathaniel als Beweis für den von ihm selbst hypothetisierten Ödipuskomplex.
Unter Annahme der Diagnose einer schizophrenen Psychose bei dem Patienten Nathanael fällt es dem psychiatrisch orientierten Leser dieser Abhandlung tatsächlich schwer, den Gedankengängen Sigmund Freuds Folge zu leisten und sich von seiner Art der Beweisführung überzeugen zu lassen.   
Freud schreibt: „Der Schluss der Erzählung macht es ja klar, dass der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist.
Eine intellektuelle Unsicherheit kommt hier nicht mehr in Frage: wir wissen jetzt, dass uns nicht die Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen.     
Das Studium der Träume, der Phantasien und der Mythen hat uns gelehrt, dass die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung des mythischen Verbrechers Ödipus ist nur eine Ermässigung für die Strafe der Kastration (....)
Viele andere der Züge der Erzählung erscheinen willkürlich und bedeutunslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur Kastrationsangst ablehnt, und werden sinnreich, sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet.“Als Fussnote folgt: „Das von der Verdrängung am stärksten betroffenen Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird“.
Seine These von den unterbewussten Verdrängungsmechanismen eröffnet Sigmund Freud offenbar die Möglichkeit, Personen und Vorgänge solange zu verschieben, bis er den von ihm hypothetisierten Ödipuskomlex als bewiesen darstellen kann.
Beim Lesen der Hoffmanschen Erzählung erfährt man hingegen nichts darüber, dass in der verborgenen Phantasie des Knaben Nathanael der Tod des Vaters von ihm gewünscht wird, weil er irgend eine Bestrafung von ihm fürchtet.
Im Gegensatz zu Freuds These sehe ich in der Erzählung E.T.A.Hoffmanns durchaus die meisterliche „Darstellung der Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen“, dessen Wahnsinn von Eugen Bleuler hundert Jahre später den Namen „Schizophrenie“ erhielt. 
Wenn man die Schizophrenie als Defekt der Informationsverarbeitung im Gehirn des Menschen versteht, bleiben „verstehende“ Deutungen der schizophrenen Wahnsymptome eigentlich ein Spiel mit Worten.
Klaus Conrad schreibt dazu: „Es will uns scheinen, als hätten wir den Raum der Wissenschaft in seinem eigentlichen, kritisch – empirischen Sinn verlassen und den nicht minder lockenden des intuitiven Künstlers betreten.“

Der Künstler E.T.A.Hoffmann war den kritisch-empirischen Wissenschaftlern in der Beschreibung psychiatrischer Krankheitszustände offenbar hundert Jahre voraus, denn so präzise wie er hat zu seiner Zeit noch kein Anderer die  Wahnsymptomatik eines an Schizophrenie erkrankten jungen Menschen  geschildert.

Literatur:
Berger. Mathias.: Psychiatrie und Psychotherapie, Urban u. Schwarzenberg,1998
Binswanger, O. u.a. Lehrbuch der Psychiatrie, Gustav Fischer Jena, 1911
Bleuler, Eugen: Die Gruppe der Schizophrenien, Leipzig, Wien, 1911
Conrad, Klaus: Die beginnende Schizophrenie, Thieme 1979
Freud Sigmund: Das Unheimliche (1919) S. Fischer, Studienausgabe Bd IV
Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann,1817, Reclam Nr. 230, 1991, 2003
Huber, Fritz, Psychiatrie, Lehrbuch,  Schattauer,7.Auflage 2005
Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913, 6.Auflage 1953
Kahlbaum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein, Berlin, Hirschwald,1874
Kraepelin, Emil: Einführung in die Psychiatrische Klinik, Barth, Leipzig, 1916
Kudszus,Winfried, Literatur und Schizophrenie, Niemeyer,Tübingen,1977
Pinel, Philippe: Abhandlung über Geistesverirrung oder Manie, Wien,1801
Scharfetter,C.: Briefe von Gaupp und Kretschmer an Eugen Bleuler,
                        Fortschr. Neur. Psychiatr. 67, 1999, Seite 143
Schneider, Kurt: Klinische Psychopathologie, Thieme, 1959

 




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